Integrationsbegleitung im Professionalisierungsdilemma
Integrationsbegleitung im Professionalisierungsdilemma
Mit der Erklärung von Salamanca im Jahr 1994 wurde das Recht auf Bildung für alle und eine Pädagogik für besondere Bedürfnisse in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Gleichermaßen begann damit auch eine kontroverse Diskussion
über Möglichkeiten und Grenzen der praktischen Umsetzung und über Berufsgruppen, welche
eine gemeinsame Bildung aller Kinder sicherstellen.
Widersprüchliche Erfahrungen und Spannungsverhältnisse zeigen sich in der Praxis meist dann, wenn es darum geht diagnostische Befunde von Menschen mit Behinderungen, unterschiedliche Lebenswirklichkeiten und die Bildungsanforderungen der Institution Schule zusammenzubringen. Die Eigenperspektive von Menschen mit Behinderung wird dabei in der Formel „Nichts über uns ohne uns“ (Hermes 2006) von Betreffenden selbst zum Ausdruck gebracht und damit angesprochen, dass Menschen mit Behinderung zuallererst als Menschen wahrgenommen und gleichberechtigt einbezogen sein wollen. Der Begriff „Mensch mit Behinderung“ bringt pointiert zum Ausdruck, dass menschliches Leben sich jeglicher Kategorisierung verschließt, nicht Gegenstand von Beurteilungen oder Kategorisierungen, sondern mit Honneth (2018) im Sinne des wahren Respekts in allen Sphären bedingungslos anzuerkennen ist, vielfach jedoch durch gesellschaftliche Wert- und Rahmensetzungen behindert wird. Wer und was als behindert aufgefasst wird, ist folglich nicht naturgegeben, sondern das Ergebnis (nicht die Voraussetzung) gesellschaftlicher Wertsetzungen. Menschen sind also nicht (im Hinblick auf ihre biologische Konstitution, für die sie nichts können) behindert, sondern sie werden durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Zusammenhänge behindert. In der internationalen wissenschaftlichen Rezeption zeigt sich dies beispielsweise in der begrifflichen Unterscheidung von Disability (verkörperte Differenz) und Impairment (soziale Benachteiligung), die im deutschsprachigen Raum so nicht etabliert ist (Schiefele et al. 2019, S. 20; Waldschmidt 2005). Behinderungen werden hier nahezu regelhaft mit individuellen Defizitzuschreibungen gleichgesetzt und soziale Einflussfaktoren weitgehend ausgeblendet. Soziale Aspekte der Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen werden in der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Jahr 2009 aufgegriffen und treffen auf komplexe Umsetzungsmöglichkeiten und auch Begrenzungen in der Praxis (Gasterstädt 2019).
In dem kooperativ von 2021 bis 2022 mit Studierenden im Masterstudiengang Soziale Arbeit durchgeführten Forschungsprojekt mit einem Praxisträger der inklusiven Familienhilfe wurde deutlich, dass die Integrationsbegleitung von Menschen mit Behinderung zur Teilhabe am schulischen Leben von Ambivalenzen gekennzeichnet ist. Der Begriff „Integrationsbegleitung“ wird synonym mit Schulbegleitung, Integrationshilfe (Stadt Jena) oder auch Schulassistenz verwendet. Rechtsgrundlagen für die zu erbringenden Leistungen der Teilhabe an schulischer Bildung für Menschen mit (drohenden) Behinderungen sind insbesondere in den §§ 35a SGB VIII, 112 SGB IX und 54 SGB XII kodifiziert.
Im Kern legen die mit MAXQDA softwaregestützt analysierten qualitativen Daten eine diffuse Professionalität der Integrationsbegleitung offen. In der Praxis zeigt sich am Wirkungsort der Integrationsbegleitung strukturell eine prekäre berufliche Verankerung. Für die Zusammenarbeit und auch die Kooperation mit anderen Berufsgruppen gelten Kontinuität und Vertrauen als wesentliche Voraussetzungen für gelingende Hilfeprozesse. Strukturell ist dies nicht in jeder Hinsicht gegeben. Reklamiert werden kurze Hilfezeiträume auf der Grundlage von Fachleistungsstunden, welche auf konkrete Einzelfälle oder Fallgruppen gerichtet sind. Dadurch wird die Strukturierung von Hilfeverläufen erschwert und den Fachkräften eine hohe Flexibilität abverlangt. Dies gilt insbesondere dahingehend, dass Fachkräfte in unterschiedlichen Rollen in der Schule agieren und darüber hinaus Zeitkontingente mit anderen Hilfeformen (z. Bsp. Familienhilfe) füllen.
Die soziale Situation in der Schulklasse, das Zusammenspiel zwischen Schulregeln, Kindern mit und ohne Behinderung, die Rezeption des Lernstoffes bleiben dabei eine beständige Herausforderung, weil die Erwartungen im multiprofessionellen Team auseinanderklaffen.
Die Daten zeigen, dass Integrationsbegleitungen oft für die Regulierung sozialer Probleme in der Schulklasse von Lehrenden in Anspruch genommen werden, weil die Klassensituation eine inhaltliche Lernstoffvermittlung erschwert. Damit ist eine weitere Problematik angesprochen. Die uneinheitliche Vorbildung und unterschiedliche Qualifikationswege im multiprofessionellen Team der Schule tragen in der Praxis zu aufwendigen Einarbeitungs- und Abstimmungsprozessen bei und lassen die Rolle der Integrationsbegleitung unkonturiert erscheinen. Die Spannweite der Erwartungen an die Integrationsbegleitung reichen von Quasi-Lehrkraft, welche die Stoffvermittlung unterstützt bis hin zu sozialem Kit, durch den problematische Einzelfälle in der Klasse systemkonform im Sinne der Regeln und Abläufe in der Schule gehandhabt werden. So wird im Kontext der Integrationsbegleitung reklamiert, diffus nahezu für alle sozialen Probleme in der Schule adressiert zu werden und diese jedoch aufgrund der hier exemplarisch gezeigten Schwierigkeiten in der professionellen Verankerung und dem Fokus auf Einzelfälle nur schwer bearbeiten zu können.
Vordergründig werden von den Berufsgruppenangehörenden daher auch Erfordernisse angesprochen, die auf eine Weiterentwicklung des Berufsbildes durch eine dezidierte (akademische) Qualifikation, ein transparentes Rollenprofil und eine strukturelle Verankerung in der Institution Schule abzielen. In der Summe lassen diese Impulse einen deutlichen Beitrag dafür erwarten, dass Inklusion nicht als experimentelles Bastelprojekt, sondern professionelle Anforderung aufgefasst wird, die den (Bildungs-)Biografien aller Kinder gerecht und daran gemessen wird.
Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt wurde im Masterstudiengang Soziale Arbeit von Prof. Dr. Andreas Lampert geleitet, der auch diesen Text verantwortet und von Julia Fritzsche, Kathrin Nixdorf, Julia Gottfried und Nathalie Gromann praktisch umgesetzt. Rechts im Bild sind Marie Greiner-Well und Lisa Apel als Vertreterinnen der Praxis.
Prof. Andreas Lampert
Kommentare
Keine Kommentare